Brief von der westlichen deutschen Reichsgrenze, an Ehefrau in Frankfurt/Main, geschrieben am 11. September 1944

Die Truppe, der Dr. Schneider angehört, befindet sich auf dem Rückzug aus der französischen Somme-Region und befindet sich bereits im Raum Aachen. Von hier wird der weitere Weg quer durch Deutschland führen. Ziel ist vorerst der Truppenübungsplatz Königsbrück bei Dresden, wo aus geschlagenen Truppenverbänden eine neue Division zusammengestellt werden soll.


Hier nur ein ewig langer
und verliebtes Busserl

Ansonsten: Bitte wenden!
oder n.S.

O.U. d. 11. 9.44


Mein liebes Frauchen!
Nachdem Du heute morgen gestern
schon keinen Gruß bekommen hast,
will ich das heute morgen schnell
nachholen.
Noch immer steht über uns ein gros-
sen Fragezeichen, wenn auch unsre
Neuaufstellung Tatsache zu werden
scheint d.h. wir mindestens 6-8
Wochen 'Ruhe' haben und uns ir-
gendwo im Reiche tummeln werden.
Gestern war am eindruckvollsten das
Verhalten der Zivilbevölkerung zu
unserem Abrücken und zu der Lage
im Ganzen.
Die Menschen wissen alle nicht, was
sie tun sollen, ob sie bleiben oder
wegziehen sollen. Sie meinen, der Eng-
länder könne es mit Ihnen nicht

so schlimm treiben wie der Russe
und würden sie evakuiert, wäre die
Wahrscheinlichkeit des Verlustes aller ihrer
Habe noch am größten. Ja, und das
wäre das schlimmste.
Daß schon Millionen Deutsche ihr
Hab und Gut verloren haben, beden-
ken sie dabei nicht.
Andererseits ist es aber auch toll, was
hier gespielt wird. Politisch sind die
Menschen gänzlich verdorben und
nicht zuletzt durch die Schuld un-
zulänglicher Parteigrößen. Ergab sich
doch hier folgendes Bild: Die Orts-
gruppen mit ihrem Aktenmaterial
sind verlogen d.h. rechtsrheinisch oder
die Akten wurden verbrannt; Trans-
parente 'Führer, wir folgen Dir'. 'Ein Reich -
ein Volk - ein Führer' u.s.w., u.s.w. wurden ver-
brannt; in den Kaufläden ist
großer Ausverkauf von Braunhemden
und Parteiuniformen; die Familien
der Parteigrößen sind sämtlich weg,

wenn nicht auch die Größen selbst.-
Es ist schon zu recht unerquicklichen
Zwischenfällen in diesem Zusammenhang
gekommen und man zweifelt an
dem vermeintlichen Durchdrungensein durch
eine Idee, wofür nun schon so viele
Opfer gebracht worden sind.
Kurzum, die katholische Bevölkerung
- das muß man mal ganz betont
für diesen Landstrich aussprechen -
verhält sich recht pessimistisch. Man
muß allerdings den Leutchen zuge-
stehen, daß ihr Denken nach den
letzten Ereignissen folgerichtig ist.
Wenn täglich in majestätischer Ruhe
1000 Bomber über die Grenzdörfer
Richtung Reich brausen und der Tom-
my zu Lande wenn jetzt auch
langsamer so doch immer noch stetig
sich der Grenze nähert, kann man
schon den Kopf und die Ruhe, ja
auch die Zuversicht u. den Glauben ver-

lieren.
Ja, Frauchen, uns geht es im vernünft-
gen Überlegen nicht viel anders. Nur will
man sich ja doch nicht selbst auf-
geben und das täte man in dem
Augenblick, so man den Glauben an
die Wunder vollbringende Waffe ver-
lieren würde.
Sorgen machte mir gestern von Neuem
die Fliegertätigkeit über dem Frankfurter
und Leipziger Raum.
All das konnte man vor 4 Wochen
noch nicht übersehen. Wer weiß, ob wir
uns da nicht manches anders überlegt
hätten. Margot, ich glaube aber doch,
bei den Eltern hast Du jetzt die
meiste Stütze und Hilfe. Es ist
bitter, daß ich Dir das nicht sein
kann.
Hoffentlich bist Du vor allem heil
und gut zu Hause angekommen.

Zu dumm, daß das Kinderkriegen
doch mit allerhand Sorgen verbunden
ist, die ich Dir im Moment lieber
hätte ersparen mögen. Liebling, und
doch bin ich so glücklich, daß wir so
weit sind.
Dieser Zwiespalt der Gefühle ist offen-
bar das Normale für uns. Es ist
schon toll. Frauchen, der gute Stern
oder der immerwährende Glaube an ein
gutes Ende hat uns noch nie verlassen
und ist, glaube ich, so guter Helfer
beim Durchhalten und Durchbeißen.
In Gedanken bin ich stets bei Dir
und so oft nehme ich Dich da in
meinen Arm, drücke Dich, streiche Dir
über die Haare und geb Dir ein
paar ganz liebe Busserl. So bin ich
mit den herzlichsten Grüßen, auch an
die Eltern
Dein Wolf.

© Horst Decker