Feldpostbrief aus der Bahn bei Passieren der Region um Wuppertal an Ehefrau in Frankfurt/Main, geschrieben am 17. September 1944

Die Truppe, der Dr. Schneider angehört, befindet sich auf dem Rückzug aus der französischen Somme-Region und hat Wuppertal erreicht. Von hier wird der weitere Weg quer durch Deutschland führen. Ziel ist vorerst der Truppenübungsplatz Königsbrück bei Dresden.

O.U. 17. 9.44

Liebes Frauchen!
In der Bahn, Du siehst es an der
Schrift.
Es geht Richtung Königsbrück und
wir sind eben in Wuppertal, in der
schlimmsten Industrielandschaft, die ich
je gesehen habe. Überall Fabriken,
nochmals Fabriken und ringsrum lieblos
hingesetzte Mietskasernen und Barackenlager.
Kurzum, man fragt sich, wie sich hier
soviel Menschen überhaupt wohlfühlen
können und dabei so fröhlich sein
können, wie es doch nun mal die
Rheinländer sind.
Ich selbst habe zum letzteren allerdings
meine eigene Meinung. Es ist das alles
keine tief empfundene Herzensfröhlichkeit,
es ist ein ganz oberflächliches Ausgelassen-
sein. Gestern abend war ich ja wieder ein-
mal Zeuge davon.

Nun, mit diesem Problem(?) habe ich
Dich gestern in dem nächtlichen Brief
schon behelligt. Heute tue ich es aus
einem anderen Grund. Es ist das
komische Gefühl, was uns beschleicht,
wenn uns Jung und Alt wie benommen
zum Zuge hinaufwinkt und uns so
empfängt, als führen wir als Sieger durch
deutsches Land. Warum tut das das
rheinische Völkchen? Dabei kommen
einem doch beklemmende Gefühle an.
Denn wir sind die Reiter einer geschla-
genen Armee.
Dabei lebt die Düsseldorfer Bevölkerung,
die jetzt einen Großteil der Evakuierten
vom linken Rheinufer hindurchkommen
sahen, in der Furcht vor dem anrük-
kenden Tommy. All das verträgt sich
doch nicht.
Mit Ausnahme von Wuppertal war ich
übrigens erstaunt, wie die Bombenschäden

doch eigentlich hier gar nicht so über-
mäßig groß sind.
Frauchen, jetzt erst mal ganz schnell
einen lieben Kuß! Gut so,
ja und dann muß ich mal ein
Thema anschlagen, was mir erst in den
letzten Tagen aufgestoßen ist. Es ist
die Frage über Deinen Verbleib. Die
Lage ist heute so, daß man an die
Möglichkeit der Ausdehnung von kriegs-
handlungen bis Frankfurt glauben
muß. Und wo bleibst Du dann?
Daß Du unser Erstes unter solchen
Verhältnissen bekommen sollst, wäre un-
andenkbar. Drum habe ich folgende
Bitte. Wo Du bis zum Mütterheim
doch ein Stück fahren mußt, fahre
doch Richtung Rhön/Thüringerwald mög-
lichst an der Hauptstrecke, wohin
also ein Hin- und Rückreise ohne
Schwierigkeiten vor sich gehen kann.

Bleibst Du im Taunus, müßtest Du
mit den Flüchtlingsmassen und der
damit einhergehenden Unruhe rech-
nen und das wollten wir ja gerade
vermeiden. Liebling, im Augenblick
bin ich doch über all das Zusammen-
treffen recht untröstlich.
Schreib mir nur recht bald über Eure
Entschlüsse, denn die Eltern werden sicher
das ja mit Dir überlegen.
Ja, uns wird es wahrhaftig nicht
leicht gemacht und Frauchen, Du hast
dabei den schwersten Teil zu tragen.
Komm drum her zu mir und laß
Dich ganz innig umfassen, Dich drük-
ken, liebkosen und ganz lange u.
fest und lieb küssen
von
Deinem Schneider
In Gedanken leider nur, aber da bin
ich immer bei Dir und will Dir helfen.

© Horst Decker