Feldpostbrief aus Leipzig an Ehefrau in Frankfurt/Main, geschrieben am 18. September 1944

Die Truppe, der Dr. Schneider angehört, befindet sich auf dem Rückzug aus der französischen Somme-Region und hat Leipzig erreicht. Ziel ist vorerst der Truppenübungsplatz Königsbrück bei Dresden.

Leipzig d. 18. 9.44

Meine liebe Margot!
Eben bin ich dem Keller d.h. Luft-
schutzkeller entstiegen. Als disziplinierter (?)
Wehrmachtsangehöriger bin ich natürlich
auch eine Etage tiefer gestiegen, mehr
allerdings, um mich dann draußen im
Garten über die moderne bengalische Be-
leuchtung zu amüsieren.
Scheinwerfer in Massen, Christbäume, rot u.
grün durcheinander, melodisches Gebrumme,
unterbrochen durch Bomben- und Flak-
explosionen. Ach, es ist das alles so
allbekannt und das vor allem oder besser
auch leider Dir, meiner lieben Frau,
daß man darüber garnicht schreiben mag,
wenn sich damit nicht einen Rahmen
für das geben wollte, was ich noch
an Gefühls- und Stimmungsausbrüchen hier
in Leipzig miterleben konnte.

Obwohl doch nur Einzelflugzeuge bzw.
schnelle Kampfverbände gemeldet waren,
war eine Aufregung in dem Völkchen,
wie sie für unsereinen, im besonderen, wenn
man die Rheinländer erlebt hatte,
zunächst unbegreiflich war.
Hinter all dem steht aber eine
gewisse Nervosität, die durch die allgemeine
Lage bedingt ist.
Ich machte im Vorbeigehen mehrere Be-
suche und hörte einige Meinungen.
Die Leute waren sich in ihrer Ansicht
gleich, als wie alle nicht mehr an
einen deutschen Sieg glaubten. Unter
dieser Dose leben sie nun und
vegetieren somit eigentlich nur. Denke
das ist wohl sicher, daß wir uns
damit nach all dem, was uns bisher
wertvoll war, aufgeben. Ja, und das
wollen wir doch auf keinen Fall.
Ich halte unsere Führung für nicht so


verbrecherisch, bei einer eventuellen Aussichts-
losigkeit des Kampfes, noch Millionen
von der Zivilbevölkerung verderben zu lassen.
Im Gegenteil, sie müssen einen Hoff-
nungsschimmer haben. Ja, und das soll
auch der Unsere sein.
Bis es so weit ist, kann es allerdings noch
etwas kosten und muß uns vorbereitet
finden.
Frauchen, bei all dem bin ich nur un-
glücklich, Dir so gar nicht helfen zu
können und wieder ohnmächtig dabei
stehen zu müssen. Dich aus unmittelbarer
Gefahr, wie sie im Westen täglich auftreten
kann, zu wissen, wäre mein sehnlichster
Wunsch. Liebling, deshalb gestern der Vor-
schlag mit einem ev. Mütterheim im
Osten Frankfurts. Freilich ist die elterliche
Obhut in solcher Lage auch viel wert.
Wie gerne würde ich das alles mit
Euch einmal in Ruhe besprechen.

Zufluchtsort ist ja immer unser Heim
in Betsche, wenn in Frankfurt mal
etwas schief gehen sollte.
Frauchen, und ich glaube immer an
ein gutes Ende. Du sollst das auch
tun, mag es auch noch so toll kommen.
Ich bin weit entfernt, Dir Angst zu ma-
chen und Unruhe ins Haus mit diesen
Briefen zu bringen. Nein, Margot, einmal
sollst Du wissen, daß mich keine Macht
von Dir trennen könnte und ich neben
den selbstverständlichen soldatischen Pflichten
nur für Dich da bin, allein für Dich.
Mag Dir dieses Wissen wenigstens eine Beruhi-
gung sein, wenn ich nicht bei Dir sein
kann. Dasselbe weiß ich von Dir ebenso.
Zum anderen sollen wir aber alle Vorkeh-
rungen treffen, um uns für alle Fälle
von Sorgen und Gefahren, die nicht nötig
sind, zu entlasten. In diesen Tagen muß
ich den Frankfurter Eltern besonders dank-
bar sein. Sie tragen Vieles, was ich zu tragen
hätte.
Du mein, liebes, liebes Frauchen, laß Dich umarmen
und innig, ganz innig küssen von Deinem Wolf
Von den Eltern auch herzliche Grüße ebenso an die Eltern.

(Anm.: Als Christbäume wurden die Phosphor-Leuchtsätze bezeichnet, mit denen die englischen 'Pfadfinderflugzeuge' ihren Nachtbombern die (verdunkelten) Städte markierten, über denen die Bomben abgeworfen werden sollten.

Sonderbar erscheint eine große S-förmige Markierung vor den Worten 'nicht so verbrecherisch'. Man könnte spekulieren, dass damit bedeutet werden sollte, dass die gegenteilige Aussage gemeint ist. Immerhin wurde der Brief 2 Monate nach dem Stauffenberg-Attentat geschrieben, das ja dokumentierte, dass die Offiziersschaft längst davon überzeugt war, dass eine Fortsetzung des aussichtslosen Kampfes ein Verbrechen ist.
)

© Horst Decker