Brief aus Wien, Eltern schreiben am 10. August 1942 an ihren Sohn, der als Hitlerjunge im Wehrertüchtigungslager Großhollenstein eine 4-6 wöchige Militärausbildung durchläuft, um anschließend zum Kriegsdienst eingezogen zu werden.


Wehrertüchtigungslager gab es seit Kriegsbeginn. Männliche 16 bis 17-jährige Hitlerjugendmitglieder wurden in sie abkommandiert, um dort in einem 4-6 wöchigem Lehrgang eine militärische Grundausbildung zu erhalten. Ziel war es, dass sich diese Jugendlichen bis spätestens während der Ausbildung als Kriegsfreiwillige zur Wehrmacht meldeten, um anschließend auch direkt einberufen zu werden. Wer sich nicht freiwillig meldete, wurde mittels Schikanen und Demütigungen so lange bearbeitet, bis er sich 'freiwillig' meldete, bzw. bis er seelisch gebrochen war.
Dieser Brief wurde von einer Wiener Familie geschrieben, die der militärischen Ausbildung des Sohnes offenbar sehr unkritisch gegenüber stand. Der Sohn wurde unmittelbar vor diesem wohl ersten Brief der Familie zum WEL Großhollenstein kommandiert und seine Musterung zur Wehrmacht stand bereits fest.

9.VIII.42
          Lieber Rudi!
      Haben erst heute Sonntag den 9.,
Deine liebe Karte erhalten. Es freut
uns, daß Du gut angekommen bist.
Gestern war Frau Wagner bei mir,
da ihr Hansi schon geschrieben
hat. Auf diese Art erfuhr ich
schon etwas früher, daß Du gut
angekommen bist. Die anderen
haben eine sehr lange Fahrt
gehabt. Hoffentlich bist Du
besser gefahren.
Vater war beim Sportberger, aber
leider ist bis zum 18. wegen
Urlaub geschlossen. Bücher haben
wir vorläufig auch keine bekommen.
Werde aber wieder hinschaun.

Deine Eprouvetten (Anm.*) habe ich nicht
vergessen und hab sie schön
gereinigt. Ich hab fleißig eingekocht,
damit Du das Versäumte nachholen
kannst, wenn Du nach Hause
kommst. Hast Du noch immer
Zahnschmerzen? Wenn Du etwas erfahren
hast, ob Ihr zur Musterung
hereinkommen könnt, so schreib
es mir. Ich glaube, Dein Tag
ist am 18., das wäre am Dienstag.
Schau noch nach am Musterungs-
zettel, damit kein Irrtum ist.
Vater ist diese Woche noch in
Urlaub. Wir sind gesund, was wir
auch von Dir hoffen. Wenn Du
etwas brauchst, so schreib gleich.
Denn die Post geht ziemlich lange.
          Sei recht herzlich gegrüßt
              von Deinen Eltern.

Auch viele Grüße von allen Tanten
                        und Onkel.

Lieber Rudi!
Nachdem ein Schreiben von Groß-Hollenstein
nach Wien 5 Tage braucht um ihr Ziel zu
erreichen, darf ich mir keine Zeit lassen
mit meinem Schreiben, damit Du wenigstens
nächste Woche diese Zeilen erhältst.
Wir sitzen bei Euch im Garten und 'blödeln'
gerade, und das mit Recht, denn seit Deiner
Abwesenheit hat sich das Wissenschafteln

aufgehört. Wenn Du dies Schreiben bekommst,
ist es sicher nicht mehr weit bis zu unserem
nächsten Plaudern.
    Es grüsst Dich recht herzlich
            Dein Onkel Hans u. Tante Paula.

*) Eprouvette = Reagenzglas (aus dem Französischen)

© Horst Decker