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Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief von Tochter, Erstsemester Politologie-Studentin in Frankfurt, 01.07.1948,
indirekter Bezug zur Währungsreform 20. Juni 1948, Einblick in das Studentenleben der Zeit, 700-Jahr Feier Gießens. Ost-West Konflikt

Brief mit Währungsreform-Briefmarke Posthörnchennetz  Juli 1948
Zusatzmarke 'Briefmarke 'Deutsche Post' 24 Pfg mit Überdruck 'Posthörnchennetz' der Währungsreform 20. Juni 1948



Frankfurt, 1. Juli 48

              Meine liebe Mutti!
              Heute kam von Vati das Päckchen mit dem Schwamm, vielen lieben Dank.
              Ich kann mir so richtig vorstellen, wieviel Arbeit Du haben wirst, nicht wahr.
Heute morgen kam im Radio, daß um den 20.7. herum anläßlich der 700 Jahrfeier, die Veran-
staltung 'Doppelt oder Nichts' in Gießen stattfindet. Wollen wir da nicht vielleicht hingehen?
Heut am Samstag ist der Gruß von London + Frankfurt um 21 h. Den hören wir zusammen, gell.
Es ist mal wieder Donnerstag, das sagt das Stimmungsbarometer, zumal Kurt vorhin anrief.
Er sagt, er hätte es nicht mehr ausgehalten + wollte mich nur sprechen hören. Er glaubt, ich sei
erst heute von zu Hause weggefahren, weil die Vorlesungen praktisch aufgehört haben. Er möchte
ab 15. kommen + Vati helfen. Allerdings erklärte er mir am Telefon, daß er kategorischen Befehl
erteilen will, mich am Montag noch in Mhm. zu sehen. Daraufhin meinte ich, er könnte ja
auch mal fahren, aber sein Semester dauert noch bis zum 15.7. Auch meine Erklärung unbedingt
1 Tag mal nichts zu sehen + zu hören, war völlig indiskutabel. Schließlich kam die Mutter
auch noch + erzählte mir, was es alles zu essen gäbe + ich sollte bloß kommen. Allerdings sagte ich
dann, ich hätte meine Kleider doch alle zu Hause, auch das ist egal, hieß es da. Nun sind ja auch
meine Blusen + die 2 Dirndelkleider sauber + ich bleibe ja nur 2 Tage. Den Ausschlag gab Kurt, in-
dem er mir sagte, daß 1) die Eisenbahnpreise gesenkt werden + 2) daß er ab Montag über sein
Geld verfügen kann + die 'Spesen dieses Unternehmens' begleichen würde. Ich schwelge bald nur
noch in wirtschaftl. Ausdrücken, gell.
Nach den Aussagen + Bestimmungen, scheint es uns recht schwergemacht zu werden.
Ich sprach heute mit der Leiterin des Prüfungsamtes, Frl. Ballauf, die eine sehr gefürchtete
Persönlichkeit ist, da sie mit allen entsprechende Dr. + Prof. in innigster Verbindung steht. Zu
mir ist sie immer sehr nett, während sie nur als 'Drachen' sonst bezeichnet wird. Ich berief
mich auf Kurt, den sie auch kennt + hatte gleich Konnex. Sie ist richtig offen zu mir + ich
bin froh, denn es ist gut, wenn man so jemand hat. Heute sagte sie mir, daß die Herrn ange-

wiesen worden sind, ihre Arbeiten zu erschweren + zu vergrößern, weil sie am letzten Mal für zu
'leicht' befunden wurden. Wenn man aber die letzten Klausuren sich anschaut, so dürfte man vom
Gegenteil überzeugt sein. Der Erfolg ist, daß im Wirtschaftsrechnen 8+2 Finanzmathematik
Aufgaben gestellt werden, während Buchhaltung 4-5 verschiedene Aufgaben bringen wird.
Und gerade da, muß man vor allem juristisch beschlagen sein, ein Bezug auf Gewinnverteilung bei
einer GmbH, KG, AG, Kxx, OHG, Gewerkschaften+Genossenschaften. Ich habe manches
Interessante dabei gelernt, gerade in Bezug einer KG + deren gesamter Geschäftsgang - Bilanz.
Mit den Abschlüssen alleine ist es nicht getan, dabei muß man buchen können, es kommen dann
noch Fusionen (Verschmelzung 2er gleichen Firmen), Liquidition, Sanierung, Gründung, Umwandlung,
schließlich Verbuchung von Sorten, Effekten, Devisen in in- + ausländischer Art hinzu.
Es ist hier auch ganz anders als beim Abitur. Es gibt in der Buchh. 2 Teile, d.h. der 1.Teil besteht
aus 3 Aufgaben, wie den beschriebenen, d.h. an eine Fusion schließt sich dann noch ein Geschäftsgang
an, der wieder zum erstgenannten diesmal - Einzel oder sonstigen Abschluß führt, diese 3 Aufgaben
sind nur dann völlig bewertenswert, wenn die 1. von ihnen völlig gelöst ist, obwohl die beiden
anderen nicht damit in Verbindung stehen. Man soll in der 1. zeigen, daß man buchen kann,
es heißt hier, daß dann die restl. Aufgaben sowie Teil 2 nur auswendig gelernt sei!!!
Ich verspreche mir gar nichts, nach diesen erhebenden Aussagen, aber die Prüfungsleiter haben
es uns wieder heute bestätigt. Ob die nicht einsehen, daß die Uni sowieso leer wird?
Die Mensa hat heute geschlossen. Es lohnt nicht mehr, da ja das Semester an sich fertig ist. So verpflege
ich mich zu Hause, ich bin ja auch hier + arbeite.
Gestern abend sprach Herr Prof. Bergsträser sehr interessant über Spannungen a) zwischen Jugoslawien
+ Ost+West und b) über die Frage Berlin + eine evtl. Kriegsgefahr. Er sagte, daß die 1. Phase eines
Krieges nicht durch Material entschieden wird, sondern durch die Infanterie, es käme allerdings
auf die letzte Phase an, aber die sei so, + es könnte etwas Wahres an dem Clay'chen
Ausspruch sein, Deutschland am Rhein + Europa am Kanal zu verteidigen. Wo eine infanteristische
Überlegenheit sei, läge klar auf der Hand (Rußl.), eine materielle jedoch sei nicht zu übersehen.
Auf einer Asta-Versammlung, auf der der Rektor sprach, wurde uns erklärt, daß weder Stipendien,
noch sonstige irgendwelche Hilfen für uns möglich seien, das gälte auch für die Aufbesserung
unserer Ernährung. Man kann sich allmählich ein Bild machen über die Verschiedenheit

der Meinungen, Entschlüße etc. unserer uns vorgesetzten + maßgblichen Behörden. Einen neuen
Rektor haben wir auch, Prof. Böhm. Prof. Hallstein ist jetzt Prorektor, wie fragen uns alle, was
es nur gibt, denn Prof. Böhm war vorher Kultusminister + ist nicht energisch genug, um sich
durchzusetzen.
Habt Ihr gestern abend Mignon gehört? Es war schön, nicht wahr, + ich habe sehr an Euch + an Dich, lb.
Mutti besonders, gedacht. - Heut kam im Radio durch, daß das Ledergeschäft Kuhn 150 Jahre
besteht + dieses Jubiläum gleichzeitig zu seiner Wiedereröffnung benutzt. - Hier sind jetzt die Eier frei,
man bekommt nur keine, dafür kann man Aprikosen + anderes Obst haben. Kaufen tun
die Menschen alle, es ist ja auch kein Wunder, denn Löhne + Gehälter gehen ja weiter. Das sind
doch ungesunde Zustände.
Das Wetter ist scheußlich + kalt dazu. Für die Ernte soll es ja gut sein, aber bald muß die Sonne wieder
kommen. Heute abend gab es Salat mit 2 Tomaten, dazu habe ich den Griesbrei von heute mittag
etwas in der Pfanne gebacken. Lenchen + ich verstehen uns prima. Eigenartig, nicht, ich
vergleiche das Verhältnis irgendwie mit dem von Goethe + Christiane. Nur, daß ich kein Goethe bin.
gell, Du verstehst schon, ich meine nur, daß er doch auch in Christiane + dem Extremen in ihr
den richtigen Gegenpol fand.-
Schickst Du mir Kurts Brief nach? Das wäre lieb, vielleicht ist auch von Käthe ein Brief da, aber das hat Zeit
bis ich nach Hause komme.
Ich will heute früh zu Bett gehen. Morgen bleibe ich noch mal ganz im Wirtschaftsrechnen +
Samstag mittag + Sonntag vertiefe ich mich in die Buchhaltung.
Es war so lieb mir die Kekse einzulegen. Du tust überhaupt viel zuviel für mich. Vielleicht
fallen mir aber jetzt auch erst Dinge auf, die man früher als Selbstverständlichkeit genommen
hat. Ich möchte Dir, Mutti, + auch Vati so viel Liebes sagen aber ich finde mal wieder
nicht den richtigen Satz, aber Ihr wißt ja, wie ich es meine, nicht wahr.
Als ich vorhin ein wenig zur Abspannung ein Gedichtband von Vesper las, fand ich
zufällig ein kl. Gedicht von Richard Dehmel, + ich fand es so schön, daß ich es Euch
besonders Dir, liebe Mutti, zum Sonntag schreiben möchte. Es ist aber auch Ausdruck
es glücklichen Gefühls ein solches Elternhaus zu besitzen, daß Ihr beide, Vati + Du, geschaffen,
durch schwere Zeiten erhalten habt + auch in dieser Zeit weiter erhalten werdet.

Und gerade, wenn draußen alles so wirr + ungesund ist, ist das Gefühl ein solches Haus +
solche Eltern zu besitzen unermeßlich beglückend.

Und auch im alten Elternhause
und noch am Abend keine Ruh?
Sehnsüchtig hör ich dem Gebrause
der hohen Pappeln draußen zu.
Und höre sacht die Türe klicken,
Mutter tritt mit der Lampe ein,
und alle Sehnsüchte versinken,
o Mutter, wirf dein Licht hinein.



Und nun wünsche ich Euch einen recht schönen Sonntag. Möget Ihr gesund
+ froh ihn verbringen + auch ein wenig Ruhe finden nach den großen Anforderungen,
die an Euch immer noch herantreten.
Ich hoffe Donnerstag wieder bei Euch zu sein. Tante Lulei sagt immer so
schön all my love. Ich möchte es Euch beiden, liebe, gute Mutti + mein
lieber Vati, auch sagen mit einem Kuß an Mutti + einen
stürmischen aber nicht minder lieben an Vati,
all my love
Eure
Rena

© Horst Decker