Brief eines im Wehrmachtsgefängnis
München Stadelheim inhaftierten Soldaten

München, den 14. Dezember 1941

(es folgt der Stempel mit den Vorschriften der Standortarrestanstalt, München 19, Leonrodstr. 51)

      Meine liebe gute Annemarie!
Heute ist wieder einmal ein schöner Sonntag, der uns beiden vorenthalten
wird und wir sind wieder verurteilt, getrennt und doch so nahe zu leben. Es ist wirklich
zum Weinen gerichtet, so ein freudloses Dasein zu teilen. Ich kenne jetzt das zweifelhafte
Vergnügen des Eingesperrtseins. Ich weiß, was man da körperlich und vor allen Dingen seelisch
zu leiden hat. Mein Nervensystem ist vollkommen zerstört, ich habe um 10 Jahre mindestens
gealtert und fühle mich schwach und apathisch. Wenn niemand eine Erholung braucht,
so bin ich ohne zu Rühmen bestimmt erholungsbedürftig. Die letzte Nervenspannkraft,
die ich noch hatte, hat mir glücklich der Rechtsanwalt noch zerstört mit seinem ewi-
gem Dahinhalten und Nichterscheinen. Gleichsam wie ein Schwerkranker sich auf den
Besuch des Arztes sehnt, um von ihm Linderungsmittel für Schmerzen zu bekommen, so
ist ungefähr gleichbedeutend das dringende Warten auf den Besuch eines Rechtsanwaltes.
Bis heute Sonntag war er noch nicht bei mir, obwohl am kommenden Mittwoch
d. 17.XII. nachmittags 13 3/4 Uhr die Verhandlung schon steigt. Das heißt man Gemüts=
ruhe. Hoffentlich läßt er mich womöglich nicht im Stich. Es gäbe so viel zu besprechen;
aber ich muß alles schriftlich dokumentieren, denn letzten Endes muß doch ein Anwalt
über den Verlauf des Prozesses orientiert sein. Also warten - wieder warten! -
Mein süßes Kind! Wie geht es Dir denn? Hoffentlich bist Du wieder wohl? Mach
Dir nicht so viel Sorgen, mußt halt denken, ich wäre an der Front in Rußland ungefähr
1000km weg von hier. Da könntest Du mich nicht besuchen, kommt Post sehr spärlich
und man müßte doch aushalten. Was bleibt einem übrig? Es geht alles vorüber
und Gott sei Dank, daß die Zeit immer mehr vorwärtsdrängt und vergeht. Einmal
muß auch dieses Schrecknis wieder vergehen und dann kommt wieder eine Wende im

menschlichem Leben und zwar eine glücklichere. Der Name Glück ist mir schon bald
ein unbekannter Begriff geworden. Wenn ich nur einmal wieder glücklich sein kann, fried=
lich meiner Arbeit nachkommen und zufrieden sein in der goldenen Freiheit. Die Freiheit
ist doch ein Geschenk Gottes und man muß wirklich ernsthaft dafür dankbar sein.
Du wirst staunen, wenn ich wieder nachhause komme, wie verändert ich werde. Der einstmals
lustige Milo wird ein bedachtsamer, ernster Mann sein, der nur mehr Gefallen an Natur
(Wald - Wiesen - Landstraße) haben wird und vor allem gesellschaftlichen Treiben sich fernzu=
halten sucht. - Nun zu etwas Anderem: Ich habe heute an das Gericht 157. den Antrag auf
Rücklieferung der verschiedenen Schlüssel an Dich. Ich glaube bis Donnerstag zu Deinem Besuche,
vorausgesetzt Du kommen willst - wirst Du sie in Deinem Besitz haben. Auch habe ich heute Kartini
geschrieben, daß er sich um die Verlängerung der Räumungsfrist am Vollstreckungsgericht kümmert.
Das Nötige wirst Du vielleicht mit ihm mündlich noch besprechen. Mein ganzes Leben hängt
in Deinem Schoß, und hoffe ich, daß Du mir auch wirklich treu bleibst. - Du bist mein einzi=
ger Trost noch auf Erden und wenn Du mich verläßt, so ist es mit mir auch aus. Dann geht
mein bißchen Lebensbejahung auch noch zum Teufel und ich stehe dann vor dem Nichts. -
Schau, meine Liebe, was ist eigentlich das Leben ? Nichts! - Kümmernis, Unannehm=
lichkeiten, Widerwärtigkeiten und ein paar kleine Sonnenstrahlen. - Man hofft immer
und immer wieder auf ein Glück, das gar nicht kommt. Zufriedenheit und wenn es noch
so dürftig ist, das ist noch das größte Glück und man muß Gott dafür danken. Was habe ich
gehabt? Große Begeisterung, Ovationen, Beifall und was habe ich heute? - Ich sitze hier und
bin weniger als der ärmste Mensch in Freiheit. Das ist eine bittere Enttäuschung. Solange
Du in der Blüte bist, hast Du viele - viele Freunde und wenn Du in Not und Bedrängnis bist,
kennt Dich kein Mensch mehr, Du bist nie mehr dann eine Vegetabile. - Nun genug des
Jammerns, es wird deshalb nicht anders, im Gegenteil, es freuen sich höchstens noch Deine
lieben Mitmenschen. - Kein Erbarmen, kein Mitleid, - nichts - nichts hat man für Dich
mehr. Ja - ja- meine liebe Annemie, hoffentlich bist Du noch so tapfer wie Du bisher warst und
wartest auf mich. Ich verspreche Dir hoch u. heilig, daß ich nur zu Dir sein will und wir unser
künftiges Leben in Eintracht und Liebe aufbauen werden. Das sei sicher. Nun muß ich
wieder einmal weiter warten, erstens auf einen lieben Brief von Dir und 2. auf den Besuch
des Rechtsanwaltes. Der Sonntag ist vergangen und nun kommt der Montag zum

Warten dran. Morgen kann ich Dir vielleicht noch Verschiedenes schreiben, was mir heute
in meiner ewig langen fast schlaflosen Nacht wieder einfällt. - Montag d. 15. Dez. 41
9 Tage vor dem heiligen Abend. Wehmütig umgibt mich kommende Weihnachtsstimmung, ich
denke an meine Jugendzeit, wie meine Eltern noch die letzten Vorbereitungen zu dem schönsten
...fest machten, später als meine Eltern schon sehr alt waren und an unsere gemeinsam
verlebten Weihnachtsfeste. So viel schöne Pracht an Lichtern u. Christbaumschmuck an unser
gemütliches Heim, an all das viele Gute und Schöne, was uns Freude machte. Und heute sehen
wir mit Trauer dem Weihnachtsfest entgegen. - Krieg u. wiederum Krieg, Entbehrungen und
Trauer. - Aber auch das wird vorbeikommen und gehen. Die trostbringende Zeit fährt immer
wieder über alles Unglück hinweg und hinterläßt einen Strahl Hoffnung. Und Hoffnung braucht
der Mensch wie das tägliche Brot. Und durch meine starkersehnte Hoffnung wurde ich heute
endlich durch den Besuch des Rechtsanwaltes Dr. Kartini entlohnt. Wir haben uns ausgesprochen
und das war für mich eine reichliche Entspannung . - Leider habe ich seit Freitag keine Nachricht
mehr von Dir bekommen. Nun ja, wird schon kommen. Ich habe beim Gericht nachgesucht,
daß Dir meine sämtlichen am Gericht deponierten Schlüssel ausgehändigt werden und Du könntest
sie vielleicht Donnestag, wenn Du mich besuchst, mitnehmen. Heute erhielt ich auch ein kleines
Päckchen von Dir, das mich ausnehmend erfreut hat. Herzlichen Dank dafür. Du bist halt
mein sorgendes Mütterchen und weiß ich ganz genau, wie ich Dich schätzen muß. Ich freue mich
so auf unser Glück. Keine Zwietracht will ich weder kennen noch fühlen. Ich bin
satt von diesem jammervollen Leben. Einmal darf es wirklich auch mal mir gut gehen nach
diesem Martyrium. Ich will doch niemand etwas Schlimmes, sondern bin nur froh, wenn
mir niemand was antun will. Das walte Gott. Bitte kümmere Dich etwas, wegen der
Räumungsangelegenheit der Wohnung. Am 1. Januar ist doch Termin. Ich habe auch bereits
heute extra mit Kartini gesprochen. Der Zwieback ist ausgezeichnet und schmeckt mir
wirklich sehr gut. Auch die Pfefferminz-Pastillen tun mir auch sehr große Dienste. Du glaubst
gar nicht wie ich mich elend fühle nach dieser furchtbaren Nervenprobe. Ach, wenn nur
ich wieder in Freiheit wäre, ich glaube ich würde barfuß nach Lindau gehen, wenn es von mir
verlangt wird. Ich bin auch nicht mehr so jung und agil, um solche Strapazen noch mit=
machen zu können. Meine Jahre sind gezählt und wer weiß wie lange einem noch das irdische
Dasein gewährt wird? Ich bete täglich zu Gott, daß er mir beisteht zu meinem Unschuldsbekenntnis,

denn nichts ist schrecklicher, als hier im Arrest zu verbleiben. Nun, mein süßes Lieb,
ich hoffe Dich bald wieder zu sehen und freue mich schon sehr darauf. - Ist zuhause
jetzt alles in Ordnung. Wie geht es dem Bärle? Hoffentlich gut. Und Dir wird
es hoffentlich auch wieder gesundheitlich gut gehen. - Nun, meine Süße, werde ich
mein Schreiben beenden, denn es wird allmählich schon wieder Nacht und das
Abendessen wird serviert 16:30h. Wenn ich immer wieder an die schrecklich lange
Nacht denke, dann werde ich wieder ganz traurig, denn ich kann ja nur die Hälfte
der Nacht schlafen, weil mir mein Kreuz und alle inneren Organe wehtun.
    Für heute nehme die herzlichsten Grüße und Küsse entgegen
      von
          von Deinem Dich stetsliebenden
              Camillo

Recht viele Grüße an Irmgard u. Herrmann und sage Ihnen
daß es nicht sehr schön von Ihnen war, daß Sie gar nicht an mich
schreiben. D. alte Freunde !!!!
Auch an Ottheng und andere viele Grüße. -


Tabak könnte ich sehr gebrauchen
natürlich Rauchtabak
Butter, Kuchen, Keks
u. Bonbons ...

© Horst Decker


     


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