NS-Propagandabrief 5.11.1935

Wer nicht genau hinsieht, glaubt einen handgeschriebenen Originalbrief aus Russland auf schlechtem, gelblich verschmutztem Papier vor sich zu haben. Der Brief scheint zensiert worden zu sein, worauf die vielen Unkenntlichmachungen von Worten hinweisen. Allerdings fällt dabei auch auf, dass der staatliche Zensor einen Federhalter mit exakt der gleichen Tinte verwendet haben musste. Sieht man genauer hin, insbesondere mit einer Lupe, so bemerkt man, dass der Brief komplett inkl. dem Umschlag im Offsetverfahren gedruckt wurde. Bestenfalls wäre es also das Faksimile eines Originalbriefes?
Kennt man aber die politische Situation der Zeit um 1935, so erscheint es ausgesprochen unglaubhaft, dass ein solcher Brief eine Chance gehabt hätte, die Sowjetunion zu verlassen. Kein Zensor hätte sich die Mühe gemacht, so viele Worte zu streichen. Spätestens beim zweiten falschen Wort wäre der Brief in den Papierkorb des Zensors gewandert. Zudem ist der Brief ja trotz Streichungen noch extrem negativ für die Sowjetunion. Ein Schreiber eines solchen Briefes wäre in ein Straflager nach Sibirien verbracht worden, ohne die Möglichkeit zu haben, jemals wieder einen Brief zu schreiben. Möglicherweise wäre er auch als Staatsfeind exekutiert worden.
Der Brief hat keine direkte Anrede, sondern richtet sich an 'werte Freunde'.
Wer hat also diesen Brief geschrieben? Das ist wohl eine Frage nach dem Motiv eines solchen Briefes.
Ab 1933 emigrierten viele Sozialisten aber vor allem Kommunisten aus Deutschland in die Sowjetunion. Nicht, dass das nationalsozialistische Deutschland diesen Umstand bedauert hätte, aber diese deutschen Emigranten bewiesen ja durch ihre Flucht nach Hitlers Machtergreifung eine im damaligen Sinne antideutsche Haltung, waren gut ausgebildet und waren daher in der Lage, die Sowjetunion zum Schaden Deutschlands zu stärken.
Gegenteilig zu diesem Schreiben, konnten sie aus der sicheren Sowjetunion durch negative Darstellung des NS-Staates und positive Verklärung der Sowjetunion, Verwandte und Bekannte in Deutschland gegen den NS-Staat aufwiegeln oder gar selbst zur Emigration in die Sowjetunion bewegen.
Aus beiden genannten Gründen kann man davon ausgehen, dass es sich bei dem Brief von vornherein um eine Fälschung des NS-Staates handelt, die bewirken sollte, Personen ein so schreckliches Bild der Sowjetunion zu vermitteln, dass dadurch jedwede Vorstellung, der Staat Stalins sei eine Alternative zum Hitlerstaat, versiegte.
Unter diesem Gesichtspunkt wurde das Schreiben ab November 1935 in größerer Stückzahl als Original-Zeugenbericht verbreitet.
Möglicherweise wurde der fiktive Brief bei Versammungen durch Ortsgruppenleiter verlesen oder der Bevölkerung anderweitig bekannt gemacht.

Nicht lesbare Stellen sind mit 'xxx' wiedergegeben.



Kr. F. 23. Okt.35    5.11.35
Werthe Frd. in der Heimat!
ich fühle mich heute gezwungen, an Euch einige Worte
zu richten; ihr wißt ja, daß ich mich seit 1933 hier in
S-Rußland
befinde; ich arbeite nicht auf dem Lande als
Viehzüchter; zurz. bin ich in der Wolgadsch. Republik; zuvor
war ich in der Ukraine; das Leben auf dem Lande ist
hier sehr schwer , u. besond. für Ausländer; deshalb bleiben
die Schlauen schön in der Stadt sitzen z.B. die xxx des
xxx
s, u. die lästigen Menschen wirft man auf das
Land; zu den lästigen Menschen gehöre auch ich, weil ich
zu viel die Wahrheit liebe, also bin ich den Staatspolitikern
lästig; denn ein ehrlicher Mensch kann mit den hiesig.
Verhältn. nicht zufrieden sein, denn hier ist alles xxx
u. schlecht ihr wißt l. Frd., daß ich früher ein eifriger An-
hänger der s-russ. Politik war, weil ich den Kxxx
glaubte u. daß ich teilweise aus Neugierde Dschld. verließ,
um das s-russ. Paradis zu sehen; nun bin ich über 2 Jahre
hier u. habe satt bis zum Halse; ich habe gehungert fort-
während, ich bin krank immerzu, ich leide Not alle Tage;
ihr wißt, daß ich kein Lügner bin, u. ich schreibe nur das
Wichtigste
; also geht es mir hier sehr schlecht wie noch nie
in meinem Leben; deshalb hatte ich vor, das gelobte
Land zu verlassen; jedoch die xxxhaben ein schlechtes
Gewissen u. lassen unserein nicht hinaus; also, mußte ich
zwangsweise ein s-russ. "Bürger" werden, d.h. ein
Gefangener; ich fuhr deshalb extra von der Ukraine
nach Moskau um mich persönlich zu befreien u. wurde
empfangen wie ein Rechtloser u. behandelt wie ein

Hund; kein Mensch hörte mich an
, man schickte mich von
Pontius zu Pilatus, bloß um mich zu erlahmen; du mußt
warten, warten; also wartete ich über 5 Wch. auf eine Antw.
ich wurde mittellos, obdachlos, krank; ich irrte hungrig!
durch die Straßen, war naß vom Regen u. fieberkrank, aber
die "Genossen" hörten nicht; ich sollte durch Hunger u. Elend
gezwungen
werden, niemand half mir; also brach ich zu-
letzt den Kampf vorläufig ab, denn sie hätten mich
bis zum Tode warten lassen; u. so wurde ich ein "freier
Sowjetbürger", um dem Hungertod auf den Straßen Moskaus
zu entgehen; Seit dieser Zeit bin ich ein Gefangener, u.
mein Leben hat allen Reiz verloren; ich habe alles Int-
resse für diese Welt verloren; wie schwere Sklaven-
ketten drückt mich der Gedanke, der Untertan eines frem-
den Landes zu sein u. dazu gegen mein Willen;
L. Frd. ihr wißt, wie sehr ich meine alte Heimat liebe,
daß ich ein gr. Freund der Wälder u. Berge war, daß ich das
freie Leben liebte u. niemals dem Menschen etwas Schlechtes
wollte; also könnt ihr Euch denken, wie es mir zumute
ist; ein Hungersklave, der aus seiner Heimat verschleppt
wurde, kann nicht unglücklicher sein wie ich; u. so soll
ich hier arbeiten, auf einem elenden Wolgadorf, unter
den traurigsten Verhältnissen; jedoch meine Gedanken
sind nicht hier
, ich hasse doch dieses Land, dessen Menschen
mir mein Leben verdorben haben, ich will ja gar nicht
ihr "Bürger" sein, ich will nicht ihr Gastrecht mehr, sondern
ich will heraus, fort aus diesem "freien" Lande; aber in
S.-R. hat man extra Gesetze, u. Menschenrecht ist hier
ein Spielzeug; Recht verlangt man bloß von andern

Regierungen, aber S.-R. hält sich an kein allgem. Gesetz.
Ihr werdet euch wundern, daß ich so offen schreibe; ja ich
thue es absichtlich; ihr sollt die Wahrheit hören von mir u.
sollt sie allen Bekannten mitteilen, u. wenn ich dafür ge-
straft werde, so habe ich doch keine Angst mehr, denn mein
Leben ist hier ja doch eine Qual, eine Hölle u. wenn es
genug ist, so werde ich selbst Schluss machen; zuvor
aber will ich die Sache noch überall bekanntmachen
wie es einem dsch. Arbeiter geht in S.-Russl., ich war auch
in Moskau beim dsch. Konsul u. ich werde alles unter-
nehmen, um meine Leidensgeschichte der Außenwelt
mitzuteilen
; glaubt nicht, daß hier die Ausländer wie
Brüder der Russen gehalten werden, hier besteht ein
Fremdenhass wie überall, u. nur die wohlhabenden
Ausländer u. die xxx haben es gut; die gewöhnlichen
ausl.-Arbeiter führen hier ein trauriges, hartes Leben;
u viele gingen gerne zurück, aber sie dürfen nicht, hätte
ich das alles vor 3 Jhr. gewußt, so wäre ich nicht her-
über gefahren; ich bin ein Opfer der xxxpolitik
geworden; früher war ich stolz auf das sozial. S.-R.
u. habe meine freie Zeit, Geld u. alles geopfert für den
Sowjetstern u. heute bin ich ein Gefangener, Entrechteter
verraten u. verkauft wie ein Sklave, an ein fremdes
Land; u. gehe einem frühzeitigen Tode entgegen, das
ist der Dank der Genossen; w. Frd. wie geht es Euch
u. allen Bekannten? Hoffentlich besser als mir; vergeßt
mich nicht u. denkt nicht schlecht über mich, denn
ich wollte mich hier verbessern u. habe mich bloß

unglücklich gemacht; ich wäre besser nach Afrika ge-
gangen als nach hier, denn hier in Rßl. ist kein Platz
für ehrliche, strebsame Menschen; u. Freiheit u. Recht gilt
nicht für alle
, u. selbst als Ausländer wird man ent-
rechtet
u. durch Willkür einem der Weg erschwert;
also sitze ich hier in einem elenden Wolgadorf, hungrig
rechtlos u. verzweifelt u. sehe hinüber zu Euch, in die
alte Heimat; ich soll jetzt ein s.-russ. Bürger sein;soll
ein Gefangener sein
hinter der russ. Grenze; das ist ein
schweres Los
, u. diese Menschenfänger hier denken wir
wüßten nicht warum dieser Schwindel gemacht wird;
aber ich weiß es doch, u. werde niemals diesen Schwindel
gutheißen; ich bin u. bleibe ein Deutscher, jetzt erst recht;
von mir brauchen die Russen g. nichts Gutes zu erwarten,
u. falls ich frühzeitig hier sterben muß, so rufe ich
euch alle zum letztenmal zu: ich wurde ein Opfer
polit.xxxpropaganda
, u. starb als Gefangener
in S.-Russl., verraten u. verkauft an eine fremde
Regierung durch polit.xxx
weil ich die Wahrheit sagte u. gegen das Unrecht hier
protestierte; das könnt ihr überall erzählen u. andere
Leute warnen;

          besten Gruß
          Hüttner Herb.
          Zootechniker in Krasnohar
          A.S.S.K.d.W.D
          U.S.S.R.

(Auf den Seitenrändern stehen folgende Bemerkungen)

1. Seite: Hüttner Herb.
3. Seite: {15.11.35}
4. Seite: Zootechniker heißt hier Viezüchter
Grüß alle Freunde u. Bekannte
an meine nächsten Verwandten habe ich bereits
Nachricht geschrieben.

© Horst Decker