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Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen'

Brief mit Beschreibung des sogenannten 'Fringsens', also dem Klau von Kohlen von fahrenden Güterwaggons. Bericht über Einsatz von belgischen Wachsoldaten, die innerhalb von 14 Tagen 14 Kohlendiebe erschossen haben.



30. Jan. 1947

              Meine liebe Mutter!
Von einer einwöchigen Reise mit Hedi aus dem
Industriegebiet zurückgekehrt, finde ich die traurige
Mitteilung danach Erna von einer schweren Krank-
heit vorliegen, was wir alle sehr bedauern.
Da Du nun wieder periodisch das Bett verlas-
sen darfst, wollen wir hoffen, daß Du keinen
Rückfall erleidest. Zu Deiner körperlichen
Stärkung mache ich Dir einen Vorschlag
zur Güte: Die kleine Stange Gold in Frank-
furt a/Main bei der Mura verkaufen zu
lassen und für den erzielten erzielten Punktescheck
Kräftigungsmittel zum normalen Preise
ebenfalls bei der Mura einkaufen zu lassen,
Butter 1.80, Gries, Milch, Eiweißpräparate
pp. was Deiner Gesundheit dienlich ist.
Es werden auch Figuren aus Porzellan, Mar-
mor pp. Bilder angekauft. -
Ich war auf den Einkaufswiesen trotz der
großen Kälte und meine Frau wollte mich
nicht allein reisen lassen und gab mir
Hedi zu Begleitung mit. Wir haben dann
auch allerlei eingekauft und gleich verla-
den. Wir wären noch länger fortgeblieben,
aber die Marken reichten nicht länger,
zumal die Portionen im Hotel sehr klein
sind und im Schwarzhandel ist in den kleineren
Industrieorten nichts zu haben. Viele Büros waren
geheizt, sodaß eine Erwärmung ab und zu gut
tat. Auf der letzten Station sind wir mit
Rucksack längs den Schienen gegangen und
haben Briketts gesammelt. Im Geschäft soll
eigentlich jeder Besteller eines Schlüssels 1 Bri-
kett mitbringen, aber auch hier herrscht
überall Mangel, sodaß wir in kalten Räumen
oftmals arbeiten müssen. Im Büro habe
ich einen kl. elektrischen Ofen mitgebracht, um
etwas die Finger gelenkig zu halten.
Kein Wunder, daß hier aus fahrenden
Güterzügen bis zu 90 Waggons leer geplün-
dert werden. Jetzt haben die Engländer
Belgier zur Bewachung aufgestellt, die
bereits in 14 Tagen 51 Personen niedergeschos-
sen haben, außer den vielen Verwundeten.
Das Volk ist solcherWarnungen gegenüber
gleichgültig geworden - Hunger u. Kälte tun
weh. Leider habe ich heute nicht viel Stoff
zu schreiben. Ich gehe morgen zum Zahnarzt
und lasse mir Prothesen machen, denn die
alten klappern, da der Mund mächtig einge-
schrumpft ist. Für heute bleibe herzl. gegrüßt
          von uns allen, Dein Sohn Erich

Ich erwidere Ernas Grüße im
gleichen Sinne wie sie.

© Horst Decker